Kevin M. Buckley
Das kleine Liechtenstein mit seinen Alpentälern und alten Burgen ist ein Fürstentum wie aus dem Märchenbuch. Es ist die Heimat der ersten Frau in der Geschichte des Rennsports, die einen Weltmeistertitel geholt hat: Fabienne Wohlwend. Ferraris beste weibliche ‚Pilota‘ hat einen Tag lang ihr Tempo gedrosselt, um mit uns ein bisschen Sightseeing zu machen.
Ihre Kindheit stand ganz im Zeichen des Sports, vor allem des alpinen Skilaufs, und sie verbrachte viel Zeit mit ihrem großen Bruder Raphael und ihren Cousins. Meistens gab Fabienne dabei den Ton an. „Ich war schon damals immer der Testpilot“, lacht sie und erzählt, dass sie es war, die sich als erste auf den Schlitten schwang, während die Jungen noch zögerten. „Wenn wir im Restaurant waren, musste ich mit dem Kellner sprechen“, erinnert sich die 23-Jährige. „Ich war immer ein mutiges kleines Mädchen.“
Sich in der Gesellschaft von Jungen nicht einschüchtern zu lassen, sollte ihr später, als sie Rennfahrerin wurde und damit eine von Männern dominierte Welt betrat, zugute kommen. Mit dem Kartfahren fing alles an. Ursprünglich wollte sie nur Raphael in einem Vergnügungspark im Tessin, dem italienischsprachigen Kanton Schweiz, dabei zusehen, wie er seine Runden drehte. Am Ende des Nachmittags bettelte sie, es auch mal versuchen zu dürfen. Und Papa gab nach. Sie war sofort hellauf begeistert. Ihre Lovestory mit dem Rennsport nahm an diesem Tag ihren Anfang, kurz vor ihrem siebten Geburtstag.
Sie war klein, aber schnell und furchtlos. Die Siege kamen, die Begeisterung wuchs. Mit elf Jahren hatte sie bereits zwei Kart-Titel geholt. Als sie sechzehn war, begleitete sie ihr Vater Edwin, selbst ein begeisterter Ferrari-Fan, regelmäßig zu den Rennveranstaltungen am Wochenende. Bei diesen fünfstündigen Fahrten – fast immer von Liechtenstein aus – saß er am Steuer und Fabienne erledigte auf dem Beifahrersitz die Hausaufgaben.
Aber ihre Mutter Rita knüpfte die Unterstützung der Eltern an gewisse Bedingungen: Schulabschluss und Berufsausbildung waren Pflicht. „Ich sollte einen Plan B haben“, erinnert sich Fabienne. „falls das mit dem Rennsport nicht so gut klappen sollte.“ Sie erfüllte ihren Teil des Deals und begann eine Berufsausbildung bei der VP, Liechtensteins drittgrößter Bank. Damals war sie 19 und versuchte die Schulungen in der Bank mit Formel-4-Rennen unter einen Hut zu bringen. „Die Bank hat mich wunderbar unterstützt“, erzählt sie.
Im Oktober 2017 fuhr Fabienne mit gerade einmal 20 Jahren bei einem Audi TT-Rennen in Imola schließlich einen bahnbrechenden Sieg ein. „Es ist immer noch meine Lieblingsrennstrecke“, schwärmt Liechtensteins berühmteste Sportlerin. Und dann ging es richtig los. „Es passierte etwas Unglaubliches“, erinnert sie sich und man hört immer noch die Erregung in ihrer Stimme. Auf dem Heimweg von Imola erhielt sie eine Nachricht vom früheren Schweizer Rennfahrer Fabio Leimer, der mit dem Octane 126 Ferrari Challenge Team zusammenarbeitete. Er hatte sie an diesem Tag beim Rennen gesehen. Er schrieb: „Hallo, willst du für Ferrari fahren?“ „Das war in den sozialen Medien“, lacht Fabienne. „Ich antwortete: „Das ist ein Witz, oder?“
Auf einen Besuch in Monza folgten drei Gastfahrten bei der Ferrari Challenge in jener Saison und bald darauf stieß sie zu dem von Christian Bertschinger gegründeten Octane 126-Team. „Christian hat mich die ganze Zeit unterstützt“, sagt sie. „Und dafür bin ich ihm unglaublich dankbar. Er war einfach fantastisch.“
2018 drückte sie der Welt des Motorsports ihren Stempel auf: Nachdem sie bei der Ferrari Challenge Europe in der Klasse Trofeo Pirelli auf dem zweiten Platz gelandet war, überraschte sie die Rennwelt mit dem Sieg bei den Finali Mondiali der Ferrari Challenge und wurde damit die erste von der FIA anerkannte Rennfahrerin. Dann folgte der Eintritt in die reine Frauenrennserie W-Series. Sie belegte in der ersten Saison 2019 den sechsten Platz unter 20 Rennfahrerinnen und eroberte in Misano einen Podestplatz. 2021 wird sie erneut antreten, nachdem die Saison 2020 infolge von Covid-19 abgebrochen wurde.
Das einstige Go-Kart-Girl sitzt heute in einem Ferrari mit 650 PS und 8-Zylinder-Motor, der es auf den Geraden in Monza schon auf 303 km/h gebracht hat. Aber vielleicht wäre das kleine Mädchen von damals gar nicht sonderlich überrascht. In Liechtenstein gibt es ein zehn Jahre altes Schuljahrbuch, in das die einstigen Klassenkameraden ihre Pläne für die Zukunft eingetragen haben. Neben dem Namen eines gewissen blonden Mädchens steht ein ungewöhnlicher Wunsch: „Formel-1-Champion!“. Man darf also gespannt sein...