Der legendäre britische Automobilexperte Jeremy Clarkson steht mit seinen Ansprüchen Enzo Ferrari selbst vermutlich um nichts nach. Als der Grand-Tour-Star im Jahr 1996 Ferraris neuen F355 Berlinetta als ‚das großartigste Auto‘... der Welt... aller Zeiten!‘ bezeichnete, wusste also jeder, dass er wirklich etwas ganz Besonderes war.
Der F355 Berlinetta, der im März 1994 auf dem Genfer Autosalon enthüllt und bis 1999 verkauft wurde, ist – vereinfacht ausgedrückt – eine Rundumerneuerung des Vorgängermodells Ferrari 348.
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Das ist jedoch eine Untertreibung für die Initialzündung, die die Ingenieure von Maranello mit diesem V8-Supercar in Gang setzten. Sie ließen gewissermaßen keinen Stein auf dem anderen. Das Ergebnis war ein weitaus runderes „Paket“ als bei seinem bereits beeindruckenden Vorgänger.
Der Technologietransfer aus der Formel 1 brachte zusätzliche Energie in die Leistung und das Handling des Zweisitzers, während der F355 Berlinetta gleichzeitig sicherer, komfortabler und einfacher zu bedienen war – unabhängig davon, ob die Besitzer den Col de Turini in Angriff nahmen oder durch Turin fuhren.
Während unter der Hülle eine Revolution stattgefunden hatte, bevorzugte Pininfarina für das Exterieur einen evolutionäreren Ansatz. Die Dachsäulen des ‚Flying Buttress‘ gehen elegant in eine belüftete Motorabdeckung über, während eine starke Gürtellinie den F355 Berlinetta oben an seinen 18-Zoll-Magnesium-Felgen optisch in zwei Teile teilt, als ob man die obere und untere Hälfte der Karosserie teilen könnte, wie ein Croupier ein Kartenspiel.
Der F355 Berlinetta war kraftvoll und schnell, mit einem 3,5-Liter-Dino-V8, der 380 PS leistete und das Auto in nur 4,7 Sekunden auf 100 km/h beschleunigte
Aber während die imposanten Seitenschweller und die Lamellen-Rückleuchten des 348 auf den 80er-Jahre-Exzess des Testarossa verweisen, kehrt der F355 Berlinetta zu einem klassischeren Stil mit eleganten Doppellufteinlässen in den Flanken und Vierfach-Rückleuchten zurück, ähnlich wie der 308, Ferraris ursprünglicher Mittelmotor-V8.
Hinter dem breiten Schweller ist der F355 Berlinetta im Innenraum überraschend geräumig für einen Supersportwagen, der von der Nase bis zum Heck nur 4250 mm misst und nur 1170 mm hoch ist. Aber die Kabine ist sehr fahrerzentriert – die Sitze aus Connolly-Leder sind tief auf dem Boden platziert (optional gab es Composite-Rennsitze), die eingehausten Instrumente sind gestochen scharf und geschaltet wird mit einem Stahlhebel mit Knauf in Form einer haptischen Leichtmetall-Kugel.
Unter der Karosserie bildet ein Semi-Monocoque aus Stahl den Kern der Struktur, mit Frontfederung mit rohrförmigem Rahmen und hinten montiertem Antriebsstrang.
Und was für ein Antriebsstrang. Der 3,5-Liter-Dino-V8-Motor verfügt über eine flache Kurbelwelle, eine Bosch-Kraftstoffeinspritzung und Titanpleuel, um ihn auf 8500 U/min zu beschleunigen, aber die eigentliche Innovation steckt in der Einführung von Fünfventil-Zylinderköpfen – drei Ventile auf der Einlassseite, zwei für die Abgase.
Im Inneren des F355 Berlinetta lag der Fokus voll und ganz auf dem Fahrer, obwohl das Auto ungewöhnlich geräumig war. Ein Schalthebel aus silbernem Stahl sorgt für angenehm schnelle Gangwechsel
Ferrari war so stolz auf diese neue, von der Formel 1 inspirierte Lösung, dass der Modellname des F355 Berlinetta in ungewohnter Manier den Hubraum des Motors mit der Anzahl der Ventile pro Zylinder kombiniert.
Mit maximal 8250 U/min liefert der Motor 380 PS und erstaunliche 109 PS pro Liter und beschleunigt von 0 auf 100 in nur 4,7 Sekunden. Das ultimative Potenzial von 295 km/h (184 mph) wird durch einen Ganzkörper-Unterboden stabilisiert, um den Abtrieb zwischen Vorder- und Hinterachse auszugleichen.
Auch das ist nutzbare Kraft, die nicht nur mit einer geschickten Doppelquerlenkeraufhängung und ABS-Bremsen wie bisher gezähmt wird, sondern auch mit einer benutzerfreundlicheren Servolenkung und gasgefüllten elektronischen Stoßdämpfern, die der Fahrer von Komfort auf Sport umschalten kann.
Das von Pininfarina entworfene Chassis verfügte in diesem Jahr über zwei Lufteinlässe an der Seite und vier Rücklichter für einen klassischen Ferrari-Look
Käufer, die sich das volle Rennerlebnis wünschten, konnten ein Fiorano-Chassis-Upgrade-Paket für ein noch schärferes Handling erwerben, und ab 1997 war ein hochmodernes Getriebe im Formel-1-Stil erhältlich. Es war Ferraris erstes halbautomatisches Getriebe und eines, das das Know-how des Formel-1-Autos F1-89 für zackige manuelle Schaltvorgänge über die Schaltwippen oder den Komfort eines vollautomatischen Getriebes anwendete. In jedem Fall konnte der Fahrer die Hände stets am Lenkrad halten.
Die Auswahl des Getriebes änderte sogar den Namen des Autos – F355 Berlinetta für manuelle Modelle, 355 Berlinetta F1 für Modelle mit Halbautomatik.
Als er den F355 Berlinetta zum ersten Mal fuhr, fielen Clarkson beim besten Willen keine Verbesserungsvorschläge ein. Auch ein Jahr später hatte er nicht das Geringste zu „beanstanden“ und bezeichnete ihn als ‚einfach unglaublich, wirklich unglaublich gut‘.
Fast drei Jahrzehnte nach dem Launch des F355 Berlinetta klingen diese Worte immer noch überzeugend. Was Clarkson damals jedoch nicht ahnen konnte, war, dass die außergewöhnliche Bandbreite des F355 Berlinetta jeden zukünftigen Ferrari zu einem fantastischen Gesamtpaket machen würde. Der F355 Berlinetta war also nicht einfach nur wichtig. Manche sagen, er sei das wichtigste Auto in der gesamten Geschichte von Ferrari. Das wichtigste aller Zeiten.