Es war die vielleicht größte Geste von Sportsgeist in der Geschichte der Formel 1. Ein Fahrer, der das Rennen und den Weltmeister-Titel hätte gewinnen können, überließ sein Auto einem anderen Fahrer, damit dieser den Titel holen konnte.
Diese dramatische Geschichte über Opfer spielt passenderweise in Monza, der legendärsten aller Rennstrecken. Außerdem handelt sie von Ferrari, dem wohl berühmtesten aller F1-Teams.
In der letzten Runde der Weltmeisterschaft 1956 hatten drei Fahrer die Chance, den Titel zu gewinnen: Titelverteidiger Juan-Manuel Fangio und sein junger Ferrari-Teamkollege Peter Collins, der in seinem ersten Jahr bei der Scuderia war. Der dritte Fahrer war Jean Behra, ein erfahrener französischer Rennfahrer, der für Maserati antrat.
Fangio galt als absoluter Favorit. Er führte in der Meisterschaft mit satten acht Punkten Vorsprung vor Collins und Behra, nachdem er bereits in Argentinien und in den beiden Rennen vor dem Großen Preis von Italien gewonnen hatte: Großbritannien und Deutschland.
Die Überraschung der Saison war Collins. Mit gerade einmal 24 Jahren hatte er in seiner ersten vollen F1-Saison unvergessliche Siege in Belgien und Frankreich errungen und war seinen erfahrenen Teamkollegen Eugenio Castellotti und Luigi Musso stets überlegen. Darüber hinaus hatte sich der stürmische Rennfahrer, der sich offen auf die italienische Lebensart eingelassen hatte, zu einem Liebling von Enzo Ferrari entwickelt.
An jenem denkwürdigen Septembertag in Monza startete der dreifache Weltmeister Fangio wie zu erwarten von der Pole Position vor seinen Teamkollegen Castellotti und Musso. Behras Maserati war auf Platz 5 in der Startaufstellung, während Collins von Platz 7 startete.
Die Berechnung war einfach. Um den Titel zu holen, musste Collins gewinnen, wobei Fangio als Dritter oder noch weiter hinten ins Ziel kommen musste. Andernfalls würde Fangio erneut zum Champion gekrönt werden.
Die größte Sorge für Ferrari war der Reifenverschleiß – und Reifenschäden. Damals war die Rennstrecke in Monza mit Hochgeschwindigkeitskurven ausgestattet. Aufgrund der hohen Geschwindigkeiten und der rauen Oberfläche der Steilkurven wurde der Gummi stark beschädigt.
In der fünften Runde wurde bei den Ferraris von Castellotti und Musso, die um die Führung kämpften, jeweils der linke Hinterreifen beschädigt. Die beiden Fahrer konnten auf heldenhafte Weise die Kontrolle über ihr Fahrzeug zurückgewinnen und sich zu den Boxen schleppen. Eine Runde später kam Teamkollege de Portago bei knapp 260 km/h nach einem Reifenschaden ins Schleudern. In der 11. Runde platzte der linke Hinterreifen von Collins. Daraufhin war er gezwungen, zu den Boxen zurückzukehren, um sich neue Reifen zu holen.
Fangio kämpfte derweil um die Führung und machte einen starken Eindruck – er war der einzige Ferrari-Fahrer, der noch keinen Reifenschaden erlitten hatte. In der 18. Runde jedoch musste der Argentinier, der als größter F1-Fahrer der 50er Jahre gilt, langsam zu den Boxen fahren, da seine Vorderräder in entgegengesetzte Richtungen zeigten. Der rechte Lenkhebel seines D50 mit V8-Motor war gebrochen. Fangio war raus. Kurz darauf fiel Behra mit seinem Maserati aus.
Währenddessen bahnte sich Collins seinen Weg rasant nach vorne. Nach der Hälfte der Strecke (25 Runden) lag er auf dem vierten Platz.
In der 35. Runde legte Collins, der zu diesem Zeitpunkt Dritter war, einen Boxenstopp zum Reifenwechseln ein und überließ sein Auto großzügig dem Teamleader Fangio. In jener galanten Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass jüngere Fahrer ihre Autos den Teamleadern überließen: Tatsächlich hatte Fangio den ersten GP der Saison 1956 (in Argentinien) mit dem Wagen seines Teamkollegen Musso gewonnen. (Wenn ein Fahrzeug geteilt wurde, wurden die Punkte zwischen den Fahrern aufgeteilt.)
Diese Geste in Monza war jedoch weitaus nobler und erhabener. Denn Collins hätte möglicherweise das Rennen und damit die Weltmeisterschaft gewinnen können. Stattdessen wurde Fangio (in Collins‘ Auto) Zweiter und lag nur sechs Sekunden hinter dem Maserati von Stirling Moss, der aufgrund eines stark abgenutzten Hinterreifens langsamer wurde.
Fangio war sich der Größe des Opfers von Collins bewusst. ‚Diese Geste rührte mich fast zu Tränen‘, sagte er später.
Mit gerade einmal 24 Jahren rechnete Collins mit weiteren Chancen. Weniger als zwei Jahre später verunglückte er mit seinem Ferrari auf dem gefährlichen Nürburgring.